Nein, ich kann Dir nicht verzeihen!


Er war mein Mann und mein Freund. Ich, als seine Frau und Hinterbliebene, kann diesen Mord nicht vergessen.

Und Du, Mörder, erwartest und verlangst von ihm, Dir zu verzeihen!

Geh zum Friedhof der Verdammten, geh acht Schritte vor das Tor und sechzehn bis zur Mauer. Dann suche sein unbekanntes Grab, rufe laut seinen Namen und sag, dass es Dir leid tut. Bitte ihn um Verzeihung!

Vielleicht steht er auf, nach einundzwanzig Jahren, macht seine müden Augen wieder auf und schaut Dich an.

Du siehst die Schusswunde auf seiner Brust und erinnerst Dich an den kalten Januartag, als sie mit geschlossenen Augen gebracht wurden.

Sie waren zwei und fünfzig. Zwei Frauen und fünfzig Männer. Du bist in die Knie gegangen und hast das Gewehr abgedrückt und sahst, wie er hinfiel.

Hast Du Dich gefragt, warum Du ihn tötest?

Im Namen der Religion und Pflichterfüllung?

Der Führer hatte es unterschrieben, der Staatsanwalt hatte seinen Namen dazugefügt, der Todesrichter verurteilte ihn zu Tode, der Folterer fesselte ihn aufs Bett, der Verhörer stellte ihm Fragen, der Justizangestellte holte ihn aus dem Krankenhaus, der Mann von Ariaschahr rief das Komitee. Er lag mit gebrochener Hüfte auf dem Boden.

Erinnerst Du Dich an seine Schusswunde?

Die Passdaran stopften seinen Leichnam in einen blauen Sack und trugen ihn mit anderen Getöteten auf Transporter.

Der Fahrer brachte sie zum Friedhof der Verdammten „Khawaran“.

Sie wurden in Massengräber geworfen, ohne ein Zeichen wer da liegt.

Nun, hörst Du ihn, er fragt Dich:

– Gab es einen Grund, als ihr mich verhaftet habt?
– Durfte ich einen Anwalt zu Rate ziehen?
– Durfte er mich verteidigen?
– Gab es Gründe für die Verhaftung?
– Gab es Zeugen?
– War das Urteil gerecht?
– Passte es zu den Vorwürfen?
– Durfte ich um Revision bitten?

Nun sag es mir: hast Du Antworten auf meine Fragen?

Wie kann das Recht meiner Hinterbliebenen und Erben bewahrt sein?

Eine Wiedergutmachung ist erst dann möglich, wenn die Massengräber geöffnet werden. Erst dann kann es einen Prozess geben, in dem die Rolle der Mörder geklärt wird, um sie zu verurteilen.

Eine Verzeihung vor dem Prozess ist sinnlos und macht den Weg frei für weitere Ungerechtigkeiten!

Ich, die Hinterbliebene und Erbin meines Mannes „Esmat Tabanian“, der am 28. Januar 1982 nach vier Monaten Gefangenschaft im Gefängnis von Ewin hingerichtet wurde.

Wie kann ich ohne Gerichtsprozess für die Aufklärung seines Todes sorgen?

Wer waren die Mörder?

Wer hat das Urteil gefällt? Derjenige, der ihn folterte und verhörte, derjenige, der ihn verhaftete oder derjenige, der ihn an jenem kalten Januartag erschoss?

Alle haben ihre dreckigen Hände im Spiel gehabt! Selbst sie sind Opfer der Religion und des Staates, welche für derartige Mordtaten verantwortlich sind!

Trotzdem sind sie für ihre Taten auch selbst verantwortlich und sollen dafür, mit Anwälten an ihrer Seite, vor Gericht gestellt werden.

Nach einer Verurteilung können die Hinterbliebenen der Getöteten gefragt werden, ob sie ihnen trotz allem verzeihen können.

Nein, ich kann nicht so großzügig sein, solange es keine Verurteilung gibt. Ich habe kein Recht zu vergeben. Eine Vergebung kann es nur nach einem Gerichtsurteil geben!

Vorher würde bedeuten, alles zu vergessen, was unter den Folterungen ertragen werden musste und gut heißen, was bis heute in unserem Land, Iran, passiert.

Nein, ich kann nicht verzeihen, ich möchte Rache nehmen.

Rache und Verlangen nach Gerechtigkeit sind so unterschiedlich wie zwei verschiedene Welten.

Wer Rache nimmt um damit seine Wut zu unterdrücken, ist sich nicht bewusst, welche Folgen das hat.

Rache und das gleiche Tun, ist das Erbe von Beduinen und Steinzeit-Menschen. Also Auge um Auge und Zahn um Zahn.

Also einerseits nicht Brutalität und Rache und andererseits das Vergessen und somit die Annahme der Ungerechtigkeit.

Es ist ein Mord passiert und ich bin die Witwe des Getöteten. Ich verlange ein gerechtes Gericht und Aufklärung der Tat. Ich kann Dir, Mörder, nicht verzeihen!

Geh zum Friedhof der Verdammen in der Khawaranstrasse. Such an diese traurigen Ort, zwischen den Gräbern, wo sie verscharrt sind, meinen Mann. Sag ihm, dass es Dir leid tut und Du Dich vor Gericht verantworten möchtest.

Vielleicht findest Du mich in seiner Nähe!

Majid Nafissi

  1. Oktober 2002
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