In Sozialen Medien und in der Öffentlichkeit herrscht eine höchst reaktionäre Stimmung in Bezug zum Krieg in Palästina. Wir beantworten einige der akutesten kontroversen Fragen.
Kundgebung für Palästina, Melbourne 2021. Foto: Matt Hrkac / Wikimedia Commons
Edit: Neue Fragen werden fortlaufend hinzugefügt.
1) Sind nicht aktuell die Palästinenser:innen der Aggressor, indem sie Gebiete in Israel angegriffen haben?
Der aktuelle Konflikt ist nur im Kontext der jahrelangen Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch den israelischen Staat zu verstehen. Palästina wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts seitens des Vereinigten Königreichs besetzt, das sich gemeinsam mit der bürgerlich-zionistischen Bewegung in Europa entschied, eine „jüdische nationale Heimstätte“ in Palästina zu schaffen. Bis dahin lebte eine jüdische Minderheit gemeinsam mit den Palästinenser:innen.
Kurz danach fing die Einwanderung von Jüd:innen in Palästina an, wobei die zionistische Bewegung die Forderung aufstellte, ein „rein jüdisches Palästina“ aufzubauen. Nach konfliktreichen Jahren gründete sich der Staat Israel 1948 mit einer massenweisen Vertreibung und ethnischen Säuberung der Palästinenser:innen. Die systematische Vertreibung, die bis heute andauert, führte bisher zu 7,2 Millionen palästinensischen Geflüchteten, die zum Teil im heutigen Gaza und zum Teil nach Libanon und Syrien flüchteten.
Von den 6,6 Millionen Palästinenser:innen, die heute in den Staatsgrenzen Israels leben, sind 4,75 Millionen vom Wahlrecht ausgeschlossen. 2 Millionen Palästinenser:innen (die Hälfte davon Kinder) leben in der bevölkerungsdichtesten Region der Welt in Gaza. Seit über 14 Jahren leben sie unter einer Blockade des israelischen Staates. 95 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, während 56 Prozent in lebensbedrohlicher Armut und Hunger leben.
Alleine zwischen 2010 und 2019 wurden 3.624 Palästinenser:innen vom israelischen Militär durch Luftangriffe oder Schüsse ermordet, 103.207 verletzt. Der Widerstand der Palästinenser:innen ist also nur eine Antwort auf die jahrzehntelange systematische ethnische Säuberung, Vertreibung und Ermordung. Die Gebiete, um die Palästinenser:innen aktuell kämpfen, sind also auch kein „fremdes Land“ für sie, sondern das Land, von dem sie gewaltvoll vertrieben worden sind. In diesem Sinne haben die Palästinenser:innen das Recht, sich gegen die israelische Besatzung zu verteidigen und ihre Aktionen sind lediglich Reaktionen auf die Besatzung selbst.
Der Aggressor in diesem Konflikt ist und bleibt einer der letzten Apartheidstaaten auf der Erde – der israelische Staat.
2) Was bedeutet „Apartheid“?
Nach der völkerrechtlichen Definition ist ein Apartheidsystem „ein institutionelles System der Unterdrückung und Herrschaft einer Gruppe gegen eine andere. Es stellt eine schwere Menschenrechtsverletzung dar, die völkerrechtlich verboten ist.“ – Amnesty-Bericht, 1. Februar 2022
Damit hat sich nun nach Human Rights Watch, B’tselem und Yesh Din (zwei israelische Menschenrechtsorganisationen) auch Amnesty International den Vorwurf der Apartheid gegenüber dem Staat Israel zu eigen gemacht.
Ergebnisse der zweijährigen Recherche und rechtlichen Analyse zeigen, dass Israel systematisch Menschenrechte verletzt, in dem der Staat massiv Land und Eigentum von Palästinenser:innen beschlagnahmt, sie rechtswidrig tötet, zwangsumsiedelt, die Bewegungsfreiheit einschränkt, die Nationalpässe für Palästinenser:innen verweigert und sie somit institutionell diskriminiert.
Auch in Südafrika herrschte ein Apartheid-Regime, das die Schwarze Bevölkerung systematisch unterdrückte und eine rechtliche Segregation nach Ethnien vornahm.
3) Kann man von einem „palästinensischen Terror“ sprechen? Die Akte der Palästinenser:innen sind doch genauso schlimm wie die des israelischen Militärs.
Der Begriff „Terror“ dient den Herrschenden als Schlüssel der internationalen Sicherheitspolitik, um oppositionelle Kräfte zu diskreditieren und zu kriminalisieren. „Kampf gegen den Terror“ ist heute die Rhetorik der imperialistischen Mächte, um ihren barbarischen Interventionen im Nahen Osten und Afrika Legitimation zu verleihen. In der Türkei und Nordkurdistan werden oppositionelle Jugendliche, Arbeiter:innen, Akademiker:innen und Politiker:innen vom bonapartistischen Erdoğan-Regime als „Terroristen“ bezeichnet. Auch in Frankreich wurden die Protestierenden gegen die Ermordung des 17-jährigen Nahel, als Terrorist:innen bezeichnet, weil sie ihre Wut zum Ausdruck brachten.
Jegliche Aktivität der Unterdrückten und der Arbeiter:innenklasse kann als Terror definiert werden, wenn sie zu gefährlich für die herrschende Ordnung wird.
Man kann aber die Gewalt der Unterdrückten nicht mit der Gewalt der Unterdrücker gleichsetzen. Auf der einen Seite haben wir eine hochtechnisierte und aufgerüstete professionelle Armee mit Luftwaffe, gar Atombomben, die von mehreren imperialistischen Ländern finanziert wird. Auf der anderen Seite ein Volk, das in Gaza von allen Seiten in einem Freiluftgefängnis belagert wird und systematisch aus der Luft angegriffen wird.
Der Sklavenbesitzer, der seine Sklaven in Ketten hält, kann nicht mit den gleichen Maßstäben der universellen Moral betrachtet werden, wie der Sklave, der systematischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es ist verständlich, dass man als erste Reaktion Gewalt von allen Seiten verurteilen will. Aber was wäre die Konsequenz davon, dass die Palästinenser:innen keine Gewalt anwenden, um sich gegen die Besatzung und Kolonisierung zu verteidigen? Dass der Status Quo, die Kolonialherrschaft, Vertreibung von Millionen Palästinenser:innen und das Morden anhalten. Die einzige Möglichkeit, die Gewalt in Palästina zu beenden, ist, dass die Kolonisierung und Apartheid zu einem Ende kommt. Denn solange Unterdrückung existiert, wird es auch Widerstand geben.
Es gibt einen Unterschied, ob man Gewalt anwendet als Verteidigung gegen Unterdrückung und als Mittel der Befreiung, oder wie die Kolonialherren als Mittel der Unterdrückung.
4) Würde man sich nicht direkt mit der Hamas solidarisieren, wenn man sich mit dem Kampf des palästinensischen Volkes um Befreiung solidarisiert?
Unsere Solidarität gilt dem Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die Besatzung und nicht den führenden Organisationen.
In der palästinensischen Bewegung sind unterschiedliche Kräfte vorhanden, neben den islamistischen Gruppen gibt es auch noch Fatah, PLFP und andere. Dass die Hamas aktuell die Bewegung anführt, ist der Tatsache geschuldet, dass linke und sozialistische (stalinistische) Kräfte der Bewegung sich früher mit der Besatzung und dem Zionismus abgefunden haben, etwa mit der Zweistaatenlösung. Heute vertritt auch die Hamas die Zweistaatenlösung.
Wir können uns die vorhandene Führung des Widerstandes nicht wegwünschen, sondern müssen mit unseren Taktiken und Vorschlägen von den realen Umständen ausgehen. Heute ist die Hamas die größte Organisation des palästinensischen Widerstands. Die Verantwortung dafür trägt nicht nur die palästinensische Linke, sondern vor allem die Passivität der Linken in Israel und auf internationaler Ebene.
Die religiös-sektiererische und reaktionäre Führung der Hamas tritt mit der politischen Nähe zur Moslembruderschaft und zur AKP auf. Diese Strömung ist queer- und frauenfeindlich und ein großer Fanatiker der Privatisierung, die die Lebensgrundlage der Arbeiter:innen angreift und sie zur Prekarisierung drängt. Außerdem sind sie nicht nur arbeiter:innenfeindlich, sondern bekannt für Korruption und Zusammenarbeit mit dem ausländischen Kapital. Die Hamas neigt dazu, auf Kosten der Befreiung Palästinas ihr wirtschaftliches und politisches Programm dem ausländischen Kapital zu öffnen. Dass diese Strömung Kommunist:innen jagt und foltert, sollte inzwischen kein Geheimnis mehr sein.
Damit Palästina sich befreien kann, braucht es eine revolutionär-sozialistische Führung, die den Kampf gegen die Apartheid mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft und gegen den Imperialismus an sich verbindet. Die richtige Methode zur Befreiung wäre ein allgemeiner Volksaufstand, den die Hamas nicht organisieren möchte, da er ihrer sektiererischen Strategie entgegen läuft.
Wir sind für die militärische Niederlage Israels, weil eine Niederlage Israels trotz der reaktionären Führung durch die Hamas, Israel selbst und alle imperialistischen Verbündete extrem schwächen würde und somit die Bedingungen für den Befreiungskampf des palästinensischen Volkes, der Ausgebeuteten und Unterdrückten der gesamten Region aber auch weltweit deutlich verbessern würden. Eine Niederlage Israels könnte eine vorrevolutionäre Situation in Israel und Palästina auslösen.
5) Bedeutet eine Solidarität mit der Widerstandsbewegung eine Billigung der zivilen Opfer?
Wir bleiben hier klar: Die Ursache für das Sterben auf beiden Seiten ist das zionistische Apartheidregime und die massive tagtägliche Gewalt gegenüber dem palästinensischen Volk. Die einzige Perspektive, dass ein dauerhafter Frieden erkämpft werden kann, ist das Ende der Kolonisierung und Entrechtung der Palästinenser:innen. Es kann keine gewaltfreie Gesellschaft oder gewaltfreien Widerstand unter dem Kolonialismus geben.
Wir solidarisieren uns mit dem Kampf des palästinensischen Volkes um seine Befreiung. Wir vertreten jedoch eine andere Strategie und Methoden als die Organisationen wie Hamas, die sich an der Spitze der Befreiungsbewegung befinden (dazu siehe Punkt 6).
Wir denken, dass es in diesem Kampf der Widerstandsbewegung in Palästina Verbündete braucht, international, aber auch innerhalb der israelischen Arbeiter:innenklasse. Denn wir glauben, dass die israelische Arbeiter:innenklasse eine Rolle darin spielen muss und die Verantwortung hat, sich gegen die eigene Regierung zu positionieren, für das Ende der Apartheid zu kämpfen und mit dem Zionismus zu brechen.
Wir lehnen Angriffe auf die Zivilbevölkerung ab. Diese isolieren die palästinensischen Arbeiter:innen von ihren strategischen Verbündeten, nämlich israelischen Arbeiter:innen, die man für einen Kampf gegen den eigenen Staat gewinnen muss, sowie für eine Überzeugung für ein friedliches Zusammenleben, damit die Ein-Staaten-Lösung – ein freies multiethnisches Palästina auf sozialistischer Grundlage – realisierbar ist.
Gerade im südlichen Teil des heutigen Staatsgebiets Israel, wo die Kampfhandlungen stattfinden, sind Spuren der Nakba allgegenwärtig. Die Dörfer, Städte, Kibbuzim sind direkt in der Nähe zerstörter palästinensischer Dörfer errichtet worden. Die Kibbuzbewegung hatte unter anderem die Aufgabe, die Grenzen durch immer mehr zionistische Vorposten zu verschieben. Die Bewohner:innen dieser Kibbuzim wohnen in vielen Fällen dort als direkte Konsequenz dieser ursprünglichen Gewalttaten.
Wir lehnen es stark ab, dass durch einseitiges Hervorheben von zivilen Opfern seitens der bürgerlichen Medien versucht wird, 75 Jahre Unterdrückung, Vertreibung, Landraub, Mord und Belagerungszustand gegen die Palästinenser:innen vergessen zu machen, um die angekündigte Offensive des israelischen Militärs zu legitimieren. Das aktuelle Sterben ist, ebenso wie 3.000 getötete Palästinenser:innen seit 2009 bis heute durch Luftangriffe und Schüsse, eine Folge des Kolonialismus.
6) Welche Lösung schlagen Sozialist:innen für Palästina-Israel vor?
Als revolutionäre Marxist:innen verteidigen wir das Recht des palästinensischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung und seinen Kampf gegen die Besatzung, der seit 1948 durch die Konstituierung des zionistischen Staates andauert. Dieses Recht wird ihm vom Imperialismus und dem Zionismus verwehrt. Wir lehnen die Zwei-Staaten-Lösung ab, weil sie unter den Bedingungen der Vorherrschaft Israels eine fortgesetzte Unterdrückung darstellt – und sich in der Praxis auch als unmögliche Utopie erwiesen hat. Die andauernde Kolonialisierung, die militärische Expansion Israels, die ungelöste Frage der Flucht, Vertreibung und Ausplünderung von Häusern und Dörfern der Palästinenser:innen offenbaren die Unmöglichkeit dieser sogenannten Lösung.
Die einzige wahre und mögliche Lösung, die ein friedliches und geschwisterliches Zusammenleben von Palästinenser:innen und Juden und Jüdinnen ermöglicht, besteht darin, sich gegen das Apartheid-Regime und den Kolonialstaat Israel zu stellen. Dieser Kampf ist untrennbar mit dem Kampf für das Ende der imperialistischen Herrschaft über die Region verbunden. Als Schritt auf dem Weg zu einer Föderation Sozialistischer Republiken des Nahen Ostens vertreten wir als revolutionäre Marxist:innen die Perspektive eines sozialistischen, laizistischen und multiethnischen Palästina auf dem gesamten historischen Gebiet Palästinas.
Zeigen wir uns mit dem Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die Besatzung solidarisch. Kämpfen wir in Deutschland gegen die deutsche Bundesregierung und die Großkonzerne, die dem israelischen Apartheidregime den Rücken deckt – und zwar mit den Mitteln der Arbeiter:innenklasse – Massendemonstrationen, Streiks und Besetzungen.
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